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Familienreise durch Estland

Familienreise durch Estland

Es gibt so viele Gründe, Estland zu besuchen und sich in dieses Land zu verlieben. Es gibt so viele Wege, dorthin zu kommen. Es gibt so viele Kontraste von Westen nach Osten, sodass wir nach nur einer Woche das Gefühl haben, mehrere Länder oder sogar Kontinente bereist zu haben. Dieser Reisebericht, der 2. Teil unseres Roadtrips durch das Baltikum, fasst nur einen Bruchteil des Erlebten zusammen.

Die Anreise von Deutschland aus habe ich ausführlich im ersten Teil meines Reiseberichts über Litauen und Lettland beschrieben. Nach ca.  2,5 Wochen Unterwegssein landen wir mit unserem Wohnmobil und zwei Kids in Estland. Estland ist der kleinste der drei Baltikumstaaten, doch ganz schnell stellen wir fest, dass hier die starken Kontraste zwischen West und Ost am meisten aufeinanderprallen. In diesem Land haben wir die skurrilsten Orte, die interessantesten Begegnungen sowie kulturelle Überraschungen und sogar die ein oder andere Zeitreise erlebt.

Wir überqueren die Grenze zwischen Lettland und Estland irgendwo nördlich des Gauja-Nationalparks und peilen einen Schlafplatz an der Küste an, um am nächsten Tag so schnell wie möglich unsere Fähre auf die Insel Saaremaa zu erreichen. Am kleinen Strand bei Pärnu stehen gemütliche kleine Grillöfen und laden zum Kaminfeuer und Grillkäse ein. Hier schlagen wir unser Nachtlager auf und versuchen stundenlang, bei dem um die Ohren sausenden Wind wenigstens einen einzigen Funken zum Leben zu erwecken. Vergebens. Es wird im Wohnmobil schweigend und frustriert gegessen. Doch der abendliche Spaziergang am Strand lässt wieder alles vergessen – atemberaubender Sonnenuntergang, warmes Licht, die Wellen … Wir sammeln Unmengen an schönen und kreativen Naturskulpturen aus Treibholz und freuen uns auf die nächsten Tage. Die verbringen wir nämlich auf einer der ca. 1.500 Inseln (die meisten davon unbewohnt) Estlands, Saaremaa. Auf der Fähre verfolgt uns das Gefühl, aus Versehen doch irgendwo in Finnland gelandet zu sein: Die meisten Autos kommen aus Finnland, das gastronomische Angebot im Bistro ist sehr skandinavisch und das Personal spricht 1A-Englisch.

Saaremaa ist die größte Insel Estlands und die viertgrößte in der Ostsee. Wir erwarten Touristen und volle Campingplätze … und sind für die nächsten Tage gefühlt alleine auf der Insel! Im Norden erwarten uns interessante Felsformationen, an denen wir tatsächlich völlig überraschend ein wenig bouldern können, während unsere Kinder in den unzähligen Höhlen und Felsennischen unsere Vorfahren aus der Steinzeit nachspielen. Danach geht es gegen den Uhrzeigesinn immer an der Küste entlang auf der Suche nach einem passenden Stellplatz. Den finden wir dank eines Flyers von der Fähre in Pidula Forell (93462 Kihelkonna Vald) – ein perfekter Mix aus Camping, Angeln und super herzlichen Gastgebern. Es handelt sich um eine Forellenzuchtanlage mit Angelmöglichkeit; die gefangenen Forellen können entweder mitgenommen werden oder werden vor Ort nach eigenem Wunsch zubereitet. Wir schlagen uns die Bäuche voll mit leckerem Fisch und drehen eine Runde mit dem Paddelboot auf dem kleinen See. Ein absolutes Highlight für unsere Kids ist die kleine Insel mitten im See, die von freilebenden und hoppelnden Hasen bewohnt wird – für eine Karotte lassen sie sich problemlos hinter den Ohren und am Bauch kraulen!

Am nächsten Tag erkunden wir den südlichen Teil der Insel. Ein Ausflug zum Kap Sõrve poolsaar, ein Besuch in dem kleinen Freiluftmuseum des alten sowjetischen Marinestützpunktes und Arensburg stehen auf dem Programm. Die kleine Stadt Arensburg  ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Neben einer großen Burganlage hat sie eine sehr gemütliche Innenstadt mit vielen Künstlerateliers und Cafés mit einheimischen Produkten zu bieten.

Wir verlassen Saaremaa mit dem Gefühl der Dankbarkeit im Herzen und dem Versprechen, so bald wie möglich wieder herzukommen und uns mehr Zeit für diesen wunderschönen Ort zu nehmen.

Unser nächstes Ziel und eigentlich auch das Hauptziel der gesamten Reise ist Tallin. Doch unterwegs gibt es noch so einiges zu entdecken, z. B. einer der skurrilsten Orte, die wir im Baltikum erlebt haben: der See Rummu, etwa 40 km vor Tallin. In diesem ehemaligen Steinbruch, der auch gleichzeitig ein Gefängnis war, wurde zu Sowjetzeiten von den Gefangenen Kalk und Marmor abgebaut. 1991 wurde das Strafgefangenenlager geschlossen, der Steinbruch stillgelegt und mit Wasser geflutet. Das Steinbruchgelände ist gegen eine kleine Gebühr zugänglich und mit unzähligen Entdeckungspfaden erschlossen. Die alten Gefängnisgebäude stehen teilweise im türkisblauen und glasklaren Wasser oder sind komplett unter der Wasseroberfläche versteckt. Vom SUP oder Boot aus oder auch mit einer Taucherausrüstung kann man die gefluteten Ruinen mit vergitterten Fensterlöchern und die alte Gefängnismauer erkunden und sich im eigenen Kopfkino in die damalige, wahrscheinlich nicht so unbeschwerte Zeit versetzen, als das Gefängnis Murru vangla noch intakt war. Abends ist hier absolute Partystimmung, in einer der Gefängnisbuden ist eine Chill-out-Lounge eingerichtet und es gibt eine aufgeblasene Spaßinsel. Pommesgeruch, Technomukke und flirtende Teenies stehen in so einem krassen Kontrast zu der eigentlichen Entstehungssgeschichte dieses Ortes, dass wir uns nicht entscheiden können, ob wir das obszön oder eher cool finden sollen. Letztendlich entscheiden wir uns für Letzteres, denn diesem einst trostlosem Ort konnte vermutlich nichts Besseres passieren, als in einen sonnigen Ort für Begegnungen und Wasseraktivitäten verwandelt zu werden. Ab ca. 20:00 Uhr verlassen die letzten Badegäste das Gelände und wir haben diese geheimnisvolle Kulisse für uns allein.

Tallin. Hier stellt sich für uns seit Tagen die Frage nach einem Stellplatz. Laut App gibt es zwar unzählige kostenlose Stellplätze in der Stadt, doch die lachen uns gar nicht an. Außerdem haben wir nach wochenlanger Abszinenz wieder mal Bock aufs Klettern. Und nun kommt die perfekte Lösung des Problems – die Boulderhalle in Tallin bietet kostenlose Stellplätze auf dem Gelände an. Doch es wird noch besser: Wie so vieles im Baltikum ist auch die Kletterhalle eine Selbstbedienungslocation. An der Eingangstür hängt die Beschreibung, wie man nach der Online-Bezahlung die Kletterhalle betreten kann – und zwar rund um die Uhr! Innen gibt es sogar eine kleine Küchennische, kalte Getränke, einen top ausgebauten Fitnessbereich und eine Sauna! Wir sind überwältigt von so viel Glück auf einmal, bouldern, pumpen, schwitzen, rollen uns auf den Matten und slacklinen, was das Zeug hält. Mit schweren Armen, zerschrotteten Fingerkuppen und glücklichen Herzen sind wir bereit für die Stadtbesichtigung. Die Innenstadt von Tallin kommt uns nach der Wildnis der letzten Wochen recht touristisch und trubelig vor, es gibt aber sehr viele kleine und gemütliche Stadtviertel, wo man entspannt auf einem Wochenmarkt schlemmen oder auf einem der tollen Spielplätze die Kids austoben lassen kann. Besonders empfehlenswert ist das Viertel Kalamaja in der Nähe des Bahnhofs. Alte Industriehallen wurden zu kreativen Weinlokalen, liebevollen Secondhand- oder Künstlerläden umgestaltet, all das von witzigen, hausgroßen Graffitis begleitet.

Nächster Halt ist der Peipussee, eine riesige Wasserfläche zwischen Estland und Russland. Wir starten in Narva, wo 99 % der Bevölkerung russisch ist. Narva erwartet uns mit heftigen Regengüssen, auf die wir nicht vorbereitet sind. Die Stadtkulisse ist aber recht eintönig, dennoch ist das Gefühl, nur noch ungefähr 150 km von Sankt Petersburg entfernt zu sein, sehr aufregend.

Am Peipussee fühle ich mich in meine Kindheit versetzt. Entlang der Küste sind überall kleine Datschas, wo die Einheimischen am Wochenende ihre Tomaten anbauen (Riesenexemplare!!!) und Schaschlik grillen. Wir übernachten auf dem Gelände eines ehemaligen Pionierlagers; die Gebäude sind noch mit Originalgraffitis aus den 80ern verziert – überall kucken uns der kleine Maulwurf und Hase und Wolf an. Das Wasser im See ist mild und klar, wir genießen mal wieder einen schönen Abend mit Blick nach Russland.

Wir fahren am Ufer des Peipussees weiter Richtung Süden und befinden uns bereits auf dem langen Rückweg nach Hause. Hier lohnt sich ein Abstecher zu den sogenannten Zwiebeldörfern Kolkja, Kasepää und Varnja. Auf den ersten Blick sind sie sehr verschlafen und unspektakulär, beim genauen Hinschauen verbergen diese kleinen Dörfchen allerdings eine spektakuläre Entstehungsgeschichte, die ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Die Altgläubigen gehörten zu einer Glaubensrichtung der russisch-orthodoxen Kirche und wurden im 18. Und 19. Jahrhundert verfolgt. Viele wanderten aus und gründeten eigene Siedlungen wie die drei kleinen Zwiebeldörfer am Peipussee. Wir machen unsere Fahrräder startklar und erkunden die Strecke von ca. 10 km. Im Mittelpunkt der drei Ortschaften befindet sich eine winzige orthodoxe Kirche mit dem typischen Zwiebeltürmchen. Wir sind zufälligerweise am Sonntag dort und der Parkplatz ist überfüllt mit Autos. Die Straße, die die drei Dörfer miteinander verbindet, ist gesäumt mit hübschen Holzhäusern, am Ufer schaukeln Fischerboote gemütlich im Wasser, hin und wieder verkaufen Babuschkas am Straßenrand eingelegte Gurken, Honig und natürlich Zwiebelzöpfe. Wir werden überall auf Tee eingeladen, als wären wir eigene Enkelkinder. Gesprochen wird nur Russisch. In einem kleinen Künstlercafé in Varnja (Lendav Laev, Järve 9, Varnja, 60305 Tartu maakond, Estland) bekommen wir trotz Schließzeiten einen selbstgemachten Rhabarbersaft und köstlichen Zwiebelkuchen (die Zwiebelsuppe brodelte im Topf und war noch nicht fertig) und dürfen die kleine, nett eingerichtete Ausstellung besichtigen. Es gibt auch viele kleine Museen über die Geschichte der Dörfer, am Sonntag sind sie aber leider geschlossen. Wir begegnen einer Deutschen aus Berlin, die allein mit dem Fahrrad unterwegs nach Tallin ist. Das ist auch die einzige Verbindung zu dem 21. Jahrhundert. Sonst fühlen wir uns in dieser Gegend mehrere Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückversetzt.

Langsam macht sich nach mehreren Wochen Unterwegssein und dem täglichen Standortwechsel Müdigkeit in uns breit und wir sehnen uns nach ein paar Tagen Nichtstun. Auf die Empfehlung eines Kollegen halten wir Kurs Richtung Roosiku, wo ein Deutscher auf dem Erbe seiner baltischen Vorfahren einen ruhigen und naturnahen Campingplatz namens Hedo talu errichtet hat (Puusepa, 66306 Roosiku, Estland). Hier lassen wir ein Paar Tage die Seele baumeln und unternehmen zum ersten Mal im Urlaub: nichts. Wir lümmeln in den an den Bäumen hängenden Hängematten, schreiben Tagebücher und beobachten den vor sich hin wuselnden Hausherrn Kay. Er hat stets etwas zu tun – das Hängezelt aufbauen, den Kompost der Trockentoilette entsorgen, die Freiluftküche einrichten, das Wasser im Holzfass aufheizen … Ab und zu packen wir mit an und fühlen uns wie ein Teil dieses schönen Ortes. Nach ein paar Tagen sind wir gestärkt und bereit für den langen Heimweg. Ab jetzt geht es ohne besondere Highlights und lange Zwischenstopps weiter nach Hause, das knapp 2.000 km weit weg ist.

Unsere Herzen sind erfüllt mit unvergesslichen Erinnerungen, viel Sonnenschein, wunderbaren menschlichen Begegnungen und großartigen Landschaften.

Wie bereits in meinem ersten Reisebericht über die anderen baltischen Länder beschrieben, ist das Baltikum ein Traum für alle, die Ruhe und Abenteuer jenseits vom touristischen Trubel suchen und die Länder eher auf eigene Faust entdecken wollen. Die Straßen sind einsam und gut. Ungefähr 2/3 der Nächte haben wir „wild“ gecampt und kein einziges Mal wurden wir verscheucht oder unfreundlich empfangen. Zum Aussuchen der Standorte eignet sich die App „stay4night“, die neben Beschreibungen auch nützliche Angaben zum Standort liefert, z. B., ob eine Grauwasserentleerung oder Frischwasser vorhanden ist. Wenn man nicht auf Frischwasser angewiesen ist und gut autark stehen kann, kommt man aber auch ohne die App ganz gut zurecht. Die Plätze sind überwiegend kostenfrei, sauber und in ausreichender Anzahl verfügbar. Oft hat man eine Feuerstelle oder einen Ofen mit Grillrost, die man problemlos nutzen kann.

Wir haben außerdem sehr viele Fahrradausflüge unternommen. Die Straßen sind überwiegend gut, wir sind sogar mit unserem Kinderanhänger überall super durchgekommen. Man sollte allerdings immer das nötige Werkzeug dabeihaben, denn die Straßen sind äußerst menschenleer und gerade im Osten des Landes kann es passieren, dass man den ganzen Tag keiner Menschenseele begegnet.

Essen

Unbedingt die Zwiebelgerichte in den Zwiebeldörfern am Peipussee und das eingeweckte Gemüsezeug, das die Einheimischen am Straßenrand verkaufen, probieren!

Sprache

Im Westen und an der Küste meistens Englisch, im Osten und am Peipussee überwiegend Russisch.

Geld

Währung ist der Euro, Kartenzahlung ist überall möglich.

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