Nächster Halt ist der Peipussee, eine riesige Wasserfläche zwischen Estland und Russland. Wir starten in Narva, wo 99 % der Bevölkerung russisch ist. Narva erwartet uns mit heftigen Regengüssen, auf die wir nicht vorbereitet sind. Die Stadtkulisse ist aber recht eintönig, dennoch ist das Gefühl, nur noch ungefähr 150 km von Sankt Petersburg entfernt zu sein, sehr aufregend.
Am Peipussee fühle ich mich in meine Kindheit versetzt. Entlang der Küste sind überall kleine Datschas, wo die Einheimischen am Wochenende ihre Tomaten anbauen (Riesenexemplare!!!) und Schaschlik grillen. Wir übernachten auf dem Gelände eines ehemaligen Pionierlagers; die Gebäude sind noch mit Originalgraffitis aus den 80ern verziert – überall kucken uns der kleine Maulwurf und Hase und Wolf an. Das Wasser im See ist mild und klar, wir genießen mal wieder einen schönen Abend mit Blick nach Russland.
Wir fahren am Ufer des Peipussees weiter Richtung Süden und befinden uns bereits auf dem langen Rückweg nach Hause. Hier lohnt sich ein Abstecher zu den sogenannten Zwiebeldörfern Kolkja, Kasepää und Varnja. Auf den ersten Blick sind sie sehr verschlafen und unspektakulär, beim genauen Hinschauen verbergen diese kleinen Dörfchen allerdings eine spektakuläre Entstehungsgeschichte, die ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Die Altgläubigen gehörten zu einer Glaubensrichtung der russisch-orthodoxen Kirche und wurden im 18. Und 19. Jahrhundert verfolgt. Viele wanderten aus und gründeten eigene Siedlungen wie die drei kleinen Zwiebeldörfer am Peipussee. Wir machen unsere Fahrräder startklar und erkunden die Strecke von ca. 10 km. Im Mittelpunkt der drei Ortschaften befindet sich eine winzige orthodoxe Kirche mit dem typischen Zwiebeltürmchen. Wir sind zufälligerweise am Sonntag dort und der Parkplatz ist überfüllt mit Autos. Die Straße, die die drei Dörfer miteinander verbindet, ist gesäumt mit hübschen Holzhäusern, am Ufer schaukeln Fischerboote gemütlich im Wasser, hin und wieder verkaufen Babuschkas am Straßenrand eingelegte Gurken, Honig und natürlich Zwiebelzöpfe. Wir werden überall auf Tee eingeladen, als wären wir eigene Enkelkinder. Gesprochen wird nur Russisch. In einem kleinen Künstlercafé in Varnja (Lendav Laev, Järve 9, Varnja, 60305 Tartu maakond, Estland) bekommen wir trotz Schließzeiten einen selbstgemachten Rhabarbersaft und köstlichen Zwiebelkuchen (die Zwiebelsuppe brodelte im Topf und war noch nicht fertig) und dürfen die kleine, nett eingerichtete Ausstellung besichtigen. Es gibt auch viele kleine Museen über die Geschichte der Dörfer, am Sonntag sind sie aber leider geschlossen. Wir begegnen einer Deutschen aus Berlin, die allein mit dem Fahrrad unterwegs nach Tallin ist. Das ist auch die einzige Verbindung zu dem 21. Jahrhundert. Sonst fühlen wir uns in dieser Gegend mehrere Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückversetzt.
Langsam macht sich nach mehreren Wochen Unterwegssein und dem täglichen Standortwechsel Müdigkeit in uns breit und wir sehnen uns nach ein paar Tagen Nichtstun. Auf die Empfehlung eines Kollegen halten wir Kurs Richtung Roosiku, wo ein Deutscher auf dem Erbe seiner baltischen Vorfahren einen ruhigen und naturnahen Campingplatz namens Hedo talu errichtet hat (Puusepa, 66306 Roosiku, Estland). Hier lassen wir ein Paar Tage die Seele baumeln und unternehmen zum ersten Mal im Urlaub: nichts. Wir lümmeln in den an den Bäumen hängenden Hängematten, schreiben Tagebücher und beobachten den vor sich hin wuselnden Hausherrn Kay. Er hat stets etwas zu tun – das Hängezelt aufbauen, den Kompost der Trockentoilette entsorgen, die Freiluftküche einrichten, das Wasser im Holzfass aufheizen … Ab und zu packen wir mit an und fühlen uns wie ein Teil dieses schönen Ortes. Nach ein paar Tagen sind wir gestärkt und bereit für den langen Heimweg. Ab jetzt geht es ohne besondere Highlights und lange Zwischenstopps weiter nach Hause, das knapp 2.000 km weit weg ist.
Unsere Herzen sind erfüllt mit unvergesslichen Erinnerungen, viel Sonnenschein, wunderbaren menschlichen Begegnungen und großartigen Landschaften.
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