Straßenbedingungen
Bis vor Kurzem noch ein einspuriges Schotter-Abenteuer, baute China den Karakorum-Highway zu einer modernen Schnellstraße aus und ergänzte sie gar um einen eigenen Hafen in Karachi, um sich so einen effizienten Zugang zum Indischen Ozean zu verschaffen. Noch ist das 400-Millionen-Dollar-Projekt nicht fertig, ein Glück für uns, denn nur wenige rußende Trucks stottern vorbei. Flüsterasphalt, geringe Steigungen, kaum Verkehr – ein Radlertraum! Die Straßen der Seitentäler sind allerdings oft rissig und von Schlaglöchern übersät. Die zahlreichen Erdrutsche und Lawinen im Winter fordern viele Reparaturarbeiten, die sich in den unzugänglichen Schluchten ewig hinziehen. Daher sind manche Abschnitte noch bis in den Spätherbst hinein in schlechtem Zustand. Der Verkehr in den Städten ist chaotisch.
Verpflegung und Übernachtung
In nahezu jedem Dörfchen gibt es Garküchen, deren Köche zwar eine Putzmittel-Allergie zu haben scheinen (die hygienischen Standards sind unterirdisch), aber das pakistanische Essen ist sehr preiswert und ein echter Hochgenuss, selbst für Vegetarier: Currys aus Linsen und Kichererbsen, Hähnchen oder Lamm, dazu frisches, ofenwarmes Fladenbrot. Wie auch in Indien vergeht keine Pause ohne den berühmten Chai: starker Schwarztee mit sahniger Milch und viel Zucker. Bei der Urlaubsplanung sollte man jedoch den Ramadan beachten, dann sind die meisten Läden geschlossen. Der Tourismus befindet sich seit 9/11 in einer anhaltenden Flaute. Seit neuestem schießen jedoch vielerorts Hotels, vor allem für einheimische Reisende, aus dem Boden. Wir bevorzugen es allerdings, das Zelt in den meist gut gepflegten Hotelgärten aufzustellen, oft sogar kostenlos. In Anbetracht der Standards sind die Zimmer meist überteuert – wie hat es ein anderer Tourist ausgedrückt: „Ich schlafe lieber in meinem eigenen Dreck…“ Ab und zu klopfen wir an die Türen der Einheimischen und erfragen nach einem Platz im Garten. Die ausgesprochene Gastfreundschaft der Leute schreibt ständige Fürsorge vor, mit allen Vor- und Nachteilen: die Privatsphäre ist dann hin. Das steile Terrain und Steinschlag erschweren das wilde Zelten. Es ist außerdem sehr ungewöhnlich und von der Polizei nicht gern gesehen.
Leben & Gesellschaft
Eigentlich hatten wir nicht vor, ein Rad über die pakistanische Grenze zu setzen. Hier fassten die Amerikaner Osama bin Laden und die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes beruhigen auch nicht gerade. Bombenexplosionen und Terroranschläge, drei Radreisende wurden zuletzt entführt, ein Dutzend Bergsteiger erschossen und alleine im vergangenen Jahr 700 Mal der Ehre wegen gemordet. In der Islamischen Republik richten Militär und Scharia-Gerichte und verhängen Todesurteile gegen Minderjährige. Dementsprechend klebten die Vorurteile anfangs wie Blei an uns und den Rädern. Als wir das erste Städtchen erreichen, wähne ich mich in Kabul, sind wir hier wirklich richtig? Uns erwarten ausnahmslos Männer in traditioneller Kleidung, weiten Pluderhosen, mit brustlangen Bärten, mancher mit dunkel geschminkten Augen. Einer kommt auf mich zu, ein finsterer Blick, dann ein Lächeln. „Es ist so toll, dass ihr hier seid. Lasst uns Tee trinken!“ Er umarmt mich, und fragt auch Claudia: „Darf ich dich mal drücken?“ Imran lädt uns schließlich in sein Haus ein. „Ihr müsst einen Tag pausieren“, warnen er und seine Schwester. Weiter unten würden die Schiiten eine Prozession abhalten, die Straßen seien deshalb gesperrt. Einen Tag verbringen wir daher in Imrans abgelegenen Bergdorf, das mich völlig überraschend in mein Leipziger Studentenleben zurückbeamt. Wir treffen uns mit Freunden, allesamt Philosophie-Studenten, auf dem Tisch stapeln sich Kant, Rousseau, Foucault. Im fließenden Englisch lästern sie über das Militär und reagieren wie jeder Nicht-Ossi, dem wir vom Nacktbaden am Cospudener See erzählen: „Da müssen wir hin!“ Das Dorf ist blitzblank geputzt, die Frauen tragen ihr Kopftuch lässig oder gar nicht. Wir sind bei den Ismaeliten im nördlichen Hunza-Tal. Eine muslimische Gruppe, deren Führer Aga Khan vor allem in Schulen und Universitäten investiert. „Bleibt bei uns in Hunza,“ raten sie zum Abschied und wir fragen uns, weshalb? Nur einige Dörfchen weiter verändert sich die Atmosphäre, wir erreichen konservative, schiitische und sunnitische Gebiete. Die Menschen sind weiter freundlich, ohne Frage, wir erhalten Hilfe wann immer notwendig. Doch deutlich weniger winken uns zu, sie starren statt zu grüßen und uns anzusprechen. Es fällt uns schwer, höflich zu bleiben bei all den staubigen Männern, die Milchtee trinken, Haschisch rauchen, lethargisch die Straßen säumen, umgeben von Unrat. Ganze Dörfer erinnern an langjährige Männer-WGs. “Wo sind all eure Frauen? Ich fühle mich einsam“, frage ich in Englisch sprechenden Runden. Einer verweist auf deren separate Straßen, als sei es das Normalste der Welt. „Wir machen Business, die Frauen sind Zuhause.“ Geschäftstüchtigkeit ist hier ein dehnbarer Begriff. Ein anderer bringt es auf den Punkt: „Unsere Frauen erledigen die Drecksarbeit.“ Die wenigen Muslima, die wir hier von Nahem sehen dürfen, haben Hände wie Steinbrucharbeiter. Von Kopf bis Fuß verschleiert ackern sie auf den Feldern und ersetzen mit ihren Rücken Esel und Pferde um die Erträge fortzuschaffen. Im Global Gender Gap Report belegt Pakistan den vorletzten Platz, nur im Jemen ist die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern größer. Weniger als die Hälfte der Frauen können lesen und schreiben, bei den Männern sind es immerhin 70%. Es gibt noch Stammesgebiete, in denen Mädchen ihre Vergewaltiger heiraten müssen, um den Frieden zwischen den Clans zu wahren. Anderswo kontrolliert die Schwiegermutter das Bettlaken nach der Hochzeitsnacht auf Blut hin, um sicherzugehen, dass die Braut unbefleckt war. Ein Hauptstädter zeigt sich unglücklich mit seiner jungen Frau, krank sei sie geworden nach der Geburt des vierten Kindes. Nun werde er sich eine zweite Gattin suchen, die den Haushalt führt. Doch fassungslos und tieftraurig macht uns vor allem eine Sache: erstmals verhüllen junge Mädchen ihr Gesicht, sobald sie uns entdecken, Frauen schnappen ihre Kinder und rennen fort. „Schüchtern“ seien die Damen, grinsen die Männer. Ein schöner Euphemismus für indoktrinierte Scheu und Unterwürfigkeit. Von einer Lehrerin erfahren wir: „Mein Mann erlaubt es nicht, dass ihr mich fotografiert. Eigentlich dürft ihr mich gar nicht sehen. Es geht um meine Ehre.“ Eine unerträgliche Doppelmoral – ich werde nämlich meist ungefragt von deren Ehemännern geknipst. Manchmal staut sich soviel Frust darüber an, dass ich verlange, die Bilder zu löschen.
In Skardu begegnen wir einem Professor der örtlichen Uni und genießen aufklärende Gespräche. Kopfschüttelnd erläutert er den zentralen Grund für die patriarchalischen Strukturen und Lethargie auf den Straßen: die unterirdische Bildung. Nur 1 Prozent des BIP fließt in die Ausbildung (in Deutschland 5) – doch sind mehr als die Hälfte der 200 Millionen Pakistani unter 25 Jahre jung. Häufig stellt die Regierung nur Schulen für Jungen zur Verfügung. Die Armen besuchen Madrassas, Religionsschulen, die neben dem Unterricht auch kostenfreies Mittagessen ausgeben und die Gehirne mit Stumpfsinn füttern. „Manche Lehrkräfte müssen 2 bis 3 Stunden laufen, ehe sie ihre Schule erreichen. Im Winter fällt der Unterricht oft aus“, erklärt der Professor. Ich muss an die deutsche Phrase denken: „Die Schlauen sollen in ihrem Land bleiben und es aufbauen.“ Wie platt und leer sie mir vorkommt, wenn ich ihm zuhöre. Mit seinem wachen und kritischen Verstand wirkt er mitunter völlig deplatziert.
Fazit
Pakistans Widersprüche fordern uns wie die Gipfel des Karakorums einen Bergsteiger. Die Landschaft raubt uns den Atem aufgrund ihrer Schönheit, die Städte wegen der unerträglichen Luft. Manchmal fährt unsere Stimmung innerhalb eines einzigen Dorfes Achterbahn. Etwa wenn wir inmitten der Lethargie und Rückständigkeit ganz unerwartet in ein spannendes Gespräch verwickelt werden, uns selbstbewusste Mädchen Äpfel schenken oder einheimische Studenten wie Berliner Hipster daherkommen. Wahnsinnig spannend, wie sich im langsamen Radreisetempo gravierende Unterschiede spüren lassen, von Dorf zu Dorf und Tal zu Tal. Insofern haben wir von den bildungsaffinen Ismaeliten des Hunzatals zu den konservativeren Örtchen mit ihren verkrusteten Strukturen ganze Universen durchradelt. Einmal mehr wird uns besonders anschaulich bewusst, dass nur eine Bildung, die auf wache und kritische Geister abzielt, die Basis einer gesunden und offenen Gesellschaft ist. Nichtsdestotrotz: Wann immer wir bei Familien nächtigen, werden wir umsorgt und gemästet als sei es Heilig Abend, und sicher fühlen wir uns überall. Letztlich ähnelt Pakistan einer Droge: Eine aufputschende, faszinierende Welt, von der wir kaum genug bekommen, die aber auch plötzliche Tiefschläge und Magenschmerzen versetzt. Süchtig sind wir allemal und verbringen statt geplanter 2 mehr als 6 Wochen im Land.
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