Verständigung und Kulturschock
Nach den zentralasiatischen, häufig auf Subsistenzwirtschaft basierenden Ländern sind wir schockiert über das Konsumverhalten der Chinesen. Ankunft im chinesischen Kunming: Unser Abendessen verschwindet fast in dessen Verpackungsmüll, am Nachbartisch bleiben ganze Menüs unangetastet zurück, genauso halbvolle Kippenschachteln – Verschwendung gilt als Statussymbol. Ein Konsumtempel reiht sich an den nächsten, Werbung prasselt unablässig auf die Passanten ein, die vertieft in ihre digitalen Begleiter unfreiwillig zusammenstoßen. Die SUV blitzen und blinken und wenn sich die Türen öffnen, entsteigt zunächst das Smartphone, dann der Selfie-Stick, zuletzt der Fahrer. Erstmals werden wir nicht neugierig gefilmt und fotografiert, die Chinesen knipsen sich lieber selbst, permanent. Ich kann mich auch nach Wochen schwer an die animalischen Tischmanieren gewöhnen, das Schmatzen und Schlürfen, das geräuschvolle Spucken, als ob sich jemand erbreche, das aber der inneren Reinigung dient. Auch stört, dass immer und überall gequalmt wird, selbst während des Essens. Mütter animieren ihre Kinder, in Mülleimer oder den Eingang des Restaurants zu pinkeln, direkt neben uns. Manch einer popelt, dass ich Angst um sein Riechzentrum habe. Und die unüberwindbare Sprachbarriere hindert uns daran, tieferes Verständnis für diese Eigenarten zu entwickeln.
Nichtsdestotrotz sind die Chinesen nett, sehr sogar, hilfsbereit und angenehm distanziert. Manchmal sogar zu kontaktscheu, zu sehr mit dem eigenem Vorankommen beschäftigt. In den vergangenen zehn Jahren installierte China 80.000 km Autobahn, das längste Netz für Hochgeschwindigkeitszüge, die längste Brücke (164 km) und selbstverständlich auch das größte Einkaufszentrum der Welt – mit 1.500 Geschäften. Innerhalb von drei Jahren fraß der Bauwahn mehr Beton als die USA im gesamten 20. Jahrhundert. Die Kommunistische Partei braucht Superlative, um die Spannungen zwischen Bettelarmen und Superreichen, Bauern und Großstädtern zu glätten und den Unmut gegen Korruption, horrende Mieten und vergiftete Babynahrung zu besänftigen. Präsident Xi Jinping will mit Nationalstolz den gesellschaftlichen Flickenteppich noch enger knüpfen. Er kreierte den markigen Slogan vom „Chinesischen Traum, dem Wiederaufstieg der chinesischen Nation“, der nun von Kashgar bis Peking das Volk auf monumentalen Plakaten antreibt. Bis 2049, dem 100-jährigen Geburtstag der Volksrepublik, soll China DIE geopolitische, wissenschaftliche, militärische und natürlich wirtschaftliche Weltmacht sein. Auf dem Rad bekommen wir das fleißige Streben, die Eile der Truckfahrer, den Bauboom täglich zu spüren, auch die krassen Unterschiede zwischen Hightech-Citys und ärmsten Weilern.
Fazit
Wir sind dankbar, das vielschichtige, mitunter gnadenlos voran strebende China sehr intensiv auf dem Rad erleben zu dürfen. Nach zwei Monaten verlassen wir das Land jedoch erleichtert. Wir fragen uns, wie man inmitten all des Staubs und Geräusch-Terrors leben kann. Zudem stellt dieser Abschnitt der Reise die Beziehung auf die Probe: Wir sind völlig auf uns alleine gestellt, niemand spricht Englisch, keiner sucht Kontakt, jeder wirtschaftet fleißig vor sich hin. Zwei Monate einsam zu Zweit, das zehrt. Wir blicken wehmütig zurück auf die entspannt-plaudernden, offenen Zentralasiaten. Ich bedauere, dass der Westen dem Osten kein alternatives Fortschrittsmodell anbieten konnte, im Gegenteil: China treibt unseres noch auf die Spitze. Wohlstand und Fortschritt versprechen viel, meinen jedoch in ihrer jetzigen Ausformung nur das gleiche wie Zerstörung und Desozialisierung. Natürlich wussten wir das irgendwie verschwommen im Voraus, aber durch dieses „Wirtschaftswunder“ mit dem Fahrrad zu fahren und am eigenem Leibe zu spüren, wie die Moderne alles niederwalzt, bringt uns völlig aus der Fassung.
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